Urteilen/Entscheiden

Organisatoren
Cornelia Vismann (Frankfurt a.M.); Thomas Weitin (Münster)
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.06.2004 - 05.06.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Vanessa Duss; Nikolaus Linder, Luzern

Am 4. und 5. Juni 2004 fand am Max Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (MPIER) in Frankfurt a.M. eine Tagung zum Thema "Urteilen/Entscheiden" statt, organisiert von Dr. Cornelia Vismann (Frankfurt a.M.) und Dr. Thomas Weitin (Münster). Die Veranstaltung widmete sich der Frage, woher das Recht, das vielen wissenschaftlichen Disziplinen als Modellfall gilt, eigentlich seine eigenen Ablaufmodelle beziehe. Das Thema wurde anhand des zentralen Rechtsaktes des Urteilens und der Entscheidfindung in historischer Sichtweise aufgerollt. Die sehr inter- resp. transdisziplinär angelegte Veranstaltung versammelte neben Juristen v.a. Fachphilosophen, Historiker, Soziologen und Germanisten, die das Tagungsthema aus den jeweils fachspezifisch eingefärbten Blickwinkeln beleuchteten.

Eröffnet wurde die Tagung mit dem Vortrag von Michael Niehaus (Bochum), der unter dem Titel Die Entscheidung vorbereiten dem Mysterium des Verfahrens als "Ausnahmezustand in dem die dringliche Entscheidung ohne zureichende Kenntnis der Lage getroffen werden muss", auf die Spur zu kommen suchte. Das Paradigma des Ausnahmezustandes, unter dem jegliche Entscheidung damit stehe (Derrida), mache es ebenso unmöglich, den Moment der Entscheidfindung genau zu bestimmen wie auch, das Entscheidverfahren zu normieren. Als Lösungsansatz, der dem Dilemma durch normierte Vorentscheidung zu entgehen versucht, wurde das Inquisitionsverfahren herangezogen: die Wahrheit wird von Amts wegen erforscht und die gesetzlichen Beweisregeln legen fest, was als bewiesene Tatsache zu gelten hat. Das Urteil wird damit zu einem Rechtsanwendungsakt. In der anschliessenden ersten und heftigen Diskussion wurde klar, wie sehr Juristen/Rechtshistoriker auf der einen und Geisteswissenschaftler auf der anderen Seite auf unterschiedliche Theoriewelten rekurrieren.

Das Referat von Susanne Lepsius (MPIER, Frankfurt a.M.) Wissen = Entscheiden, Nichtwissen=Nichtentscheiden? setzte sich mit der Geschichte des Beweisrechts aus pointiert rechtshistorischer Perspektive auseinander. Die prozessuale Beweisaufnahme soll dem urteilenden Richter Kenntnis von einem zunächst unbekannten, vergangenen Sachverhalt bringen. Seit dem Spätmittelalter war die Vorstellung der Juristen, es sei auf mathematisch-mechanistische Weise möglich, das Wissen des Richters vorzustrukturieren und ihm so die Entscheidung zu erleichtern ein beliebter Topos der literarischen Satire - zitiert wurden Rabelais und Voltaire. Dem entgegen stand das Modell der freieren richterlichen Überzeugungsfindung, zu dem sich Ansätze bereits bei Bartolus' Ausführungen zum Zeugenbericht (d.h. der Richter erlangt Kenntnis vom Sachverhalt allein durch die Schilderung eines Zeugen) zeigen. Der Richter musste zur Überzeugung (fides) kommen, dass der Sachverhalt dem entsprach, den der Zeuge schilderte. Die Herkunft dieser fides war bei Bartolus allerdings noch rein theologischer Natur, was sich u.a. an den Belegstellen aus Thomas von Aquin nachweisen lässt.

Thomas Weitins Beitrag Dichter und Richter, Probleme des Urteilens im 18. Jahrhundert kreiste um die literarische Darstellung von Heinrich Kleists "Zerbrochenem Krug" und beschäftige sich mit der "Performativität" der Verhandlung, der (mangelnden) "Repräsentativität" der Urteilsinstanz und deren Kumulation, dem Geschmacksurteil. Kleists Komödie wurde zum Anlass genommen, die symbolischen Formen des gerichtlichen Prozesses genauer zu betrachten unter der Prämisse, dass dem Recht sowohl eine performative (der Prozess als Handlung) als auch eine repräsentative Seite zu Geltungsmacht verhelfen - gemäss den Verfahrensregeln muss der Richter Perücke und Robe tragen, sozusagen die Insignien des Rechts. Der Begriff "Geschmacksurteil", der einerseits die Regelhaftigkeit, andererseits die Subjektivität des Urteilsbegriffs beschreibt, kennzeichnet den damaligen Pardigmenwechsel, weg vom materialen hin zum formalen Gerechtigkeitsbegriff: Ein Urteil hat unter Einhaltung der Verfahrensregeln gefällt zu werden um gerecht sein zu können.

Im Beitrag von Erich Hörl (Zürich) "… das römische Wesen der Wahrheit…". Über Heideggers Archäologie des abendländischen Juridismus ging es um Heideggers Darstellung der "Umbildung des Griechentums durch das Römertum" und seiner Denkanstrengung zur Aufdeckung der "von ‚Rom' verschütteten ‚griechischen' Lebenswelten." Heidegger versuchte bei der Reformulierung des Problems der Wahrheit und des Denkens "vor" die Auslegung des Wesens der Wahrheit als Problem von wahren oder falschen Aussagen zurückzudenken und wollte dazu zuerst die sich seiner Ansicht nach ausbreitende "Formalisierung des Denkens" aushebeln. Dabei erwies sich, dass ein juridisches Dispositiv das Denken über die Wahrheit beherrschte, mithin ein "römisches Wesen der Wahrheit" statuierte. Dem "griechischen Wesen der Wahrheit" als Seiendes und nicht Gedachtes - denn darin liege der Imperialismus des Römertums, der das Griechentum "verschüttet" habe - nachzuspüren, machte das "archäologische" Vorgehen Heideggers notwendig.

Den Höhepunkt der Tagung bildete wohl das Referat Marie Theres Fögens (Zürich und Frankfurt a.M.) zusammen mit der Respondenz von Eva Geulen (Bonn). Fögens Referat setzte sich mit dem Rechts- und dem Justizverweigerungsverbot auseinander, beides Anwendungsfälle des Entscheidenmüssens. Die Paradoxie der Entscheidung, über etwas prinzipiell Unentscheidbares zu entscheiden oder nicht (denn auch Nichtentscheiden ist eine Entscheidung), wird damit nämlich aktualisiert, denn das Recht kann - im Gegensatz zu anderen Systemen - der Entscheidung nicht durch Nichtentscheiden entgehen. Der Entscheidungszwang ist vielmehr der "Schrittmacher", den sich das Recht mit der Statuierung des Rechtsverweigerungs- (des subjektiven Rechts des Individuums auf Justiz) und des Justizverweigerungsverbots (des Rechts auf Entscheidung über Recht und Unrecht in allen Fällen, die dank dem Justizverweigerungsverbot vor Gericht kommen) selbst implantiert hat.

Fögens Vortrag wurde kongenial ergänzt durch die Respondenz, in der die These aufgestellt wurde, die rechtliche Institutionalisierung des Entscheidungszwangs führe- systemtheoretisch gesprochen - nicht nur zur strukturellen Schliessung des Rechtssystems, sondern ebenso zur Monopolisierung des Entscheidens durch die Richter. Ausnahme ist einzig das Nichtentscheiden - das ja auch eine Entscheidung darstellt - das vom Recht selbst aus dem System ausgeschlossen wird. Dem justiziellen Dilemma des Entscheidenmüssens stellte Geulen mit dem Satz von Melvilles Bartleby "I'd prefer not to.." ein Modell des Nicht-Entscheidens gegenüber, bezeichnete also die Weigerung, zwischen Entscheiden und Nichtentscheiden zu unterscheiden als möglichen Ausweg aus dem justiziellen Dilemma.

Es folgte der Beitrag von Manfred Schneider (Bochum) Was heisst ‚die Mehrheit entscheidet'? zum philosophischen Streit über den Wahrheitswert von Mehrheitsentscheidungen. Die Entscheidung darüber, dass die Mehrheit entscheide, sei von einer Minderheit getroffen worden.. Erst seit dem 19. Jahrhundert sei die Frage entschieden, seither seien Mengen klarerweise wahrheitsmächtig. Entschieden worden sei sie allerdings von Nichtphilosophen.

Daniel Tyradellis' (Berlin) Beitrag Leuchtet ein. Vom Zustimmungszwang der Evidenz setzte sich mit der phänomenologischen Urerfahrung des Urteilenden im Moment der Verschriftlichung des Urteils auseinander. Um Gegenstand des positiven Rechts zu sein, müsse von der Evidenz Nachvollziehbarkeit gefordert werden. Ausgehend von den Fragen, aus welchen Quellen sich Evidenzen - seien es gefühlte, logische, anschauliche etc. - spiesen, ob sie eine Geschichte hätten oder immer und überall gleich seien, wurde der Grund von Urteil und Entscheidung problematisiert.

Ihren Abschluss fand die Tagung mit dem Referat Cornelia Vismanns über das Drama des Entscheidens, das in faszinierender Weise altgriechische Tragödie und römischen Formularprozess parallel montierte. Dem Recht wurde ein unverkennbarer Hang zur Mathematik attestiert, wobei der Überzeugung des Richters die Rolle eines unprogrammierbaren, sich der Umschreibung in einen Code von Null und Eins widersetzenden "Zufallelements" zukomme. Im Gegensatz zu gerichtlichen Verhandlungen von Verbrechen zielten die griechischen Tragödien, die von Verbrechen erzählen, nicht auf die Überzeugungsbildung der Richter ab. Sie spielten im Vorfeld einer Entscheidung und thematisierten die in der richterlichen Entscheidung tabuisierten Aporien. Das Drama des Entscheidens nehme seinen Lauf dort, wo die Tragödie einsetze was die Komplementarität von Tragödien und Gerichtsentscheidungsmodi aufzeige.

Im Kreis der RespondentInnen und DiskussionsteilnehmerInnen befanden sich u.a. auch Prof. Rebekka Habermas (Göttingen), Prof. Reinhard Kratz (Göttingen), Harun Maye M.A. (Berlin), Prof. Bettine Menke (Erfurt), Prof. Klaus Mladek (Berlin), Prof. Regina Ogorek (MPIER), Prof. Manfred Schneider (Bochum) Prof. Thomas-M. Seibert (Frankfurt a.M.), Prof. Michael Stolleis (MPIER), Dr. Miloš Vec (MPIER) und Prof. Burkhardt Wolf (Berlin). In den zwei Tagen entstand durch mancherlei Kontroversen ein facettenreiches Bild wissenschafts-kontingenter Rechtsmodelle - ein reichhaltiger Fundus an Theoriengrundlagen für die rechtssystemimmanente wie auch -transzendente Darstellung von Ablaufmodellen.

Über eine Fortsetzung der Tagung, die mit Spannung erwartet werden dürfte, wurde bereits gesprochen. Doch konkrete Entscheidungen stehen noch aus und werden mit Sicherheit zu einem späteren Zeitpunkt fallen.